Mittwoch, 13. November 2013

ein dorf sorgt für furore ...

Häufig trifft man im albanischen Alltag und insbesondere im Berufsleben auf eine unglaubliche Hierarchiegläubigkeit. Der Chef weiss alles, was der Chef sagt stimmt immer und genau so muss es auch gemacht werden. Oft wird aus diesem Grund auch einfach darauf gewartet. bis der Chef kund tut, wo es lang geht. Auch Regeln und klare Strukturen werden sehr geschätzt. Irgendwie schützt das offenbar davor, selber entscheiden zu müssen. Die 40 Jahre Diktatur und Isolation haben da tiefe Spuren hinterlassen. Im Job ist dieses Denken nicht immer ganz einfach für uns. Wir sind uns kooperative und partizipative Führung gewohnt und bei uns stehen Eigenschaften wie Initiative und Eigenverantwortung hoch auf der Anforderungsliste der Chefs.

Und immer dort wo Beziehungen statt auf Zutrauen und Vertrauen auf Hierarchie und Regeln aufgebaut sind, lässt auch die Kontrolle nicht lange auf sich warten. Als hätten die Albaner nicht lange genug in einem Überwachungsstaat gelebt, ist es nach wie vor (oder vielleicht auch erst wieder) absolut legitim, wenn zum Beispiel eine Schuldirektorin Videokameras in ihren Schulzimmern installieren lässt, um dann den ordnungsgemässen Schulbetrieb bequem in ihrem Direktorensessel sitzend auf dem Bildschirm überwachen zu können. Und das Ganze wird dann noch mit Stolz als technische Errungenschaft und Fortschritt präsentiert. Na ja, in der Schweiz würde keine einzige Lehrkraft in einem solchen Umfeld arbeiten und auch sämtliche Schüler und Schülerinnen – Eltern inklusive – würden Sturm laufen. Ganze geschweige von unserem Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten, dem ob solchen Praktiken ein akuter Herzstillstand drohen würde. Hier werden solche Kontrollen durch Vorgesetzte oder Autoritäten in der Regel aber (noch) regungslos akzeptiert oder sogar als normal empfangen.

Hierarchie, Regeln und Gehorsam scheinen hier also wichtig zu sein. Wirft man dann aber einen Blick auf das Baurecht, den Verkehr oder das Arbeitsrecht, dann scheinen Regeln und deren Einhaltung völlig inexistent zu sein. Ohne jegliche Bewilligungen, ohne Zonenkonzept und oft auch ohne rechtlich gültigen Anspruch auf den Boden wird nach Belieben gebaut. Im Verkehr sind Weitsicht, Aufmerksamkeit, Geduld und Toleranz die viel besseren Ratgeber als ein Gesetz zur Vortrittsregelung (auch wenn es das auf dem Papier sicher gibt). Und als Arbeitnehmer schliesslich tut man halt einfach gut daran, den Chef und seine Position uneingeschränkt zu akzeptieren. Andernfalls ist man unter Umständen seinen Job relativ rasch los, denn Arbeitsverträge existieren häufig keine und auf der Strasse wartet bereits mindestens ein Dutzend motivierte Nachfolger für den Job.

Albanien ist in einigen Bereichen wirklich ein Land voller Gegensätze und Extreme. Hier Struktur und Ordnung und da gleich nebenan, Chaos und Willkür. Ich will diese Beobachtung persönlich gar nicht werten. Und ausserdem gibt es auch ganz viele Bereiche, die hier absolut positiv und normal funktionieren, wenn man als Norm die Schweiz zum Vergleich heranzieht. Bekanntlich ist ja alles eine Frage des Referenzpunkts.

Nein, eigentlich habe ich ja einfach nach einer Einleitung für eine andere Geschichte gesucht. Eine, die letztlich auch mit Regeln und Gesetzen zu tun hat und eine, die ich in dieser Form hier nicht erwartet hätte. Doch schön der Reihe nach. Neulich hat mich eine Mail eines Freundes aus der Schweiz erreicht (Danke Jürg). Den Worten "Ich habe Erstaunliches gelesen" war ein Zeitungsartikel aus der Schweizer Presse angefügt, in welchem von der gesamten Dorfbevölkerung eines albanischen Dorfes berichtet wird, die nach der Arbeit auf Cannabisfelder allesamt in ärztliche Hilfe gebracht werden mussten. Was für eine Geschichte aus der Rubrik Gosse, habe ich mir gedacht. Klar ist das Kiffen hier ab und zu ein Thema, vor allem bei Studenten. Aber noch nie hätte ich jemanden öffentlich dabei beobachtet, geschweige denn von verkaufswilligen Typen angesprochen worden, wie es beim Gang durch einen Bahnhof in der Schweiz Alltag ist.

Natürlich habe ich meine albanischen Arbeitskollegen (und die sind praktisch allesamt ü50) gleich mit dem Zeitungsartikel konfrontiert. Eigentlich wollte ich etwas provozieren, ein wenig an den Strukturen rütteln. Zurück kam überraschenderweise nur Zustimmung, herzliche Lacher und die ungläubige Blicke, weil ich diese Story und deren Hintergründe noch nicht kannte. Freundlich klärte man mich in der Folge über diese ominöse Ortschaft Lazarat auf.

Lazarat ist ein kleines Dorf im Süden von Albanien. Deren Dorfbewohner hatten nach dem Zerfall der kommunistischen Diktatur die Einführung der freien Marktwirtschaft auf ihre eigene Art interpretiert und den Anbau von Hanf als Businessmodell gewählt. Und ganz offenbar war die Businessidee gut, der Markt (wohl eher im Ausland) vorhanden und die Geschäfte florierten. Die Zuwanderung an Arbeitskräften nahm zu und die Produktion wurde gesteigert. Doch weil es auch hier Gesetzte gibt, entsandte die Regierung eines Tages ihre Ordnungshüter, um wieder Zucht und Ordnung herzustellen. Doch die Dorfbewohner hatten bereits vorgesorgt und mit dem neu erlangten Reichtum ihre eigenen Ordnungshüter angestellt. Unverrichteter Dinge zog die Polizei also von Dannen. Auch der Versuch der italienischen Polizei, die Grösse der Anbaufläche mit einem Helikopter zu erkunden, musste aufgrund des Beschusses abgebrochen werden. Lazarat wurde zum Politikum, aber seit Jahren ist es keiner Regierung gelungen, das inzwischen quasi autonome Dorf zu bändigen. Die Polizei traut sich bis heute nicht hin. Wer etwas im Internet recherchiert, wird auch einige Stories dazu finden. Besonders witzig ist die auf youtube filmisch festgehaltene Fahrt zweier durchgeknallter Holländer mit lokal gekauften Mopeds nach Lazarat. Ungläubig geben sie zu Protokoll, dass sogar die örtliche Schule neben einem Hanffeld stehe. Ich verzichte auf die Verlinkung dieser Beiträge, denn ich will schliesslich mit meinem Blog nicht plötzlich der Zensur zum Opfer fallen. Auf einen Link will ich aber nicht verzichten, denn selbst das Schweizer Radio hat im vergangenen August über Lazarat berichtet: Bergdorf als Drogenhochburg in Südalbanien.

Grundsätzlich ist die Geschichte ja weder lustig, noch gesund. Trotzdem ist sie irgendwie frisch und witzig, weil sie eben diese Gegensätze deutlich aufzeigt, die Albanien so spannend und irgendwie auch sympathisch machen. Angesprochen auf das Dorf Lazarat bemerkt man auch bei vielen Albanern eine gewisse Sympathie. Nicht wegen dem Cannabis, sondern vielmehr wegen der Unverfrorenheit dieses Dorfes gegenüber Hierarchien, Regeln und Gesetzen und der Unfähigkeit der Autoritäten, diese Regeln und Gesetze durchzusetzen.

Ach ja, do not panic! Lazarat steht nicht auf unserer Wunschliste von Ausflugszielen in Albanien :-)

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